Elena Digiovinazzo: Allgemein wird die Aussage vertreten, dass ein absoluter Null-Kontakt im Umgang mit Narzissten empfohlen wird. Gilt dies denn auch im Falle eines narzisstischen Elternteils? Oder kann man über radikale Grenzen einen minimalen Kontakt aufrechterhalten, beispielsweise durch die Beschränkung des Kontakts auf wenige Mal pro Jahr? Ist es möglich, den Narzissten dahingehend zurechtzuweisen, dass dieser sich zum Beispiel nur dreimal im Jahr per E-Mail melden darf und den eigenen Ruf nicht mehr beschmutzen darf?
Sven Grüttefien: Ein Narzisst braucht seine Unabhängigkeit und reagiert daher in der Regel wenig erfreut darüber, wenn man versucht, ihm Regeln zu diktieren und Grenzen aufzuzeigen. Grundsätzlich kann sich die Beziehung zu einem narzisstischen Elternteil aber durchaus verbessern – wenn der Narzisst bereit ist, selbst einen Anteil dazu zu leisten. Sieht der Narzisst keine Handlungsnotwendigkeit für sich, kann die Beziehung nur in gewohnter Weise weitergeführt werden und Betroffene müssen sich entscheiden, ob sie den Kontakt dennoch aufrechterhalten oder ihn gänzlich abbrechen wollen, weil sie am Ende doch wieder nur leiden werden. Entschließen sie sich, den Kontakt zu halten, dann wäre es ratsam, nur oberflächliche Gespräche zu führen und brenzlige Themen besser zu meiden oder sich nicht weiter dazu zu äußern. In jedem Fall sollte konsequent vorgegangen werden – das hätte ich der Betroffenen auch so geraten: Entweder völliger Kontaktabbruch, eine distanzierte Haltung bei Kontakten, ohne sich provozieren zu lassen oder das Aufstellen neuer Spielregeln, an die sich der Narzisst zu halten hat.
Ihm muss dann klar sein, dass sich der andere im Fall eines Verstoßes wieder distanzieren könnte. In dem Fall dürfen die genannten Grenzen dann nicht gelockert werden. Denn damit tut man dem Narzissten keinen Gefallen. Er wird sie dann sofort weiter aufreißen. Man bekommt in dieser Beziehung quasi die Funktion eines Therapeuten, man muss ermahnen und selbst konsequent bleiben. Es ist sicherlich ein Kraftakt. Ein solcher Kontakt erfordert sehr viel Eigendisziplin, Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle. Dem Narzissten muss aber klar sein, dass wenn er diese Beziehung möchte, dass dann auch etwas von ihm kommen muss. Betroffene müssen sich bewusst sein, dass der Narzisst immer wieder zurück in seine Muster fallen wird – gerade, wenn ein Treffen gut gelaufen ist und er Gefühle gezeigt hat, dürfen Betroffene nicht zu zuversichtlich sein. Nachdem er Gefühle gezeigt hat, kann er sich daraufhin als schwach fühlen. Es überkommt ihn also kein Gefühl der Freude so wie bei seinem Gegenüber, sondern eher ein Gefühl der Scham. Er wird wütend und aggressiv, ärgert sich über sich selbst, weil er aus seiner Sicht die Beherrschung verloren hat, und muss dann im nächsten Moment den anderen wieder die Keule über den Schädel hauen, um sich wieder stark zu fühlen und um seine Macht zu demonstrieren. Das ist dann dieses sprunghafte Verhalten, was der Narzisst zeigt und was für viele unverständlich ist.
Narzissten sehen Gefühle bei sich selbst als einen Ausdruck von Schwäche. Wenn dann der Betroffene wieder gekränkt wird, muss man sich bewusst machen, dass es nichts mit einem selbst zu tun hat, sondern dass es nur an dem Narzissten selbst liegt und dass es in ihm selbst steckt, was er versucht zu bekämpfen. Es handelt sich um Projektion. Narzissten haben Angst vor ihren eigenen Gefühlen. Sie suchen über das Demonstrieren ihrer Macht und über das Zufügen von Verletzungen, ihre eigenen unangenehmen Gefühle loszuwerden.
Elena Digiovinazzo: Also können Narzissten doch Liebe empfinden?
Sven Grüttefien: Narzissten haben die gleichen Gefühle wie andere Menschen auch – nur haben sie lediglich einen vagen Zugang zu diesen und sie beschäftigen sich auch nicht so intensiv mit ihnen. Sie wollen ja nach außen immer als stark und perfekt angesehen werden und daher – so glauben Narzissten – sind Gefühle ein Zeichen von Schwäche, weshalb sie sie dann unterdrücken. Sie können meist nur ganz schwer benennen, was gerade in ihnen vorgeht – zum Beispiel ob sie gerade traurig oder wütend sind. Außerdem glauben sie, dass die Gefühle, die sie erleben, nicht ihre eigenen sind, sondern von außen, also von anderen Menschen, in sie hineininjiziert und nicht von ihnen selbst produziert werden. Daher glauben sie, ihre Gefühle im Außen bekämpfen zu müssen, statt sich ihrem eigenen Innenleben zuzuwenden.
Elena Digiovinazzo: Können auch Menschen mit klaren Grenzen an Narzissten geraten?
Sven Grüttefien: Ja, es können auch Menschen an Narzissten geraten, die eigentlich ein intaktes Selbstbewusstsein haben und sich in ihrem Leben gut behaupten können – zum Beispiel wenn solche Personen bedürftig werden, weil sie krank werden oder einen Schicksalsschlag erleiden. Dadurch kann ein Mensch hilfs- und anlehnungsbedürftig werden. Und das riecht der Narzisst. Er stellt sich dann als der Retter dar, um die betroffene Person für seine Zwecke zu missbrauchen. Er macht es weniger, um echte Hilfe anzubieten, als vielmehr um hierfür Bewunderung zu bekommen oder einen anderen emotionalen oder materiellen Nutzen daraus zu schlagen. Der andere muss auf irgendeine Weise besondere Vorzüge mitbringen, weshalb der Narzisst sich seiner scheinbar selbstlos annimmt.
Elena Digiovinazzo: Handeln Narzissten bewusst oder unbewusst?
Sven Grüttefien: Narzissten handeln teils bewusst, teils unbewusst – es hängt von der jeweiligen Situation ab und was dieser vorausgegangen ist. Wir alle handeln ja zuweilen unbewusst, wenn wir in Stresssituationen geraten und unsere Ängste berührt werden – so auch der Narzisst. Sehen wir unsere Grundbedürfnisse gefährdet, können wir zuweilen auch sehr bewusst vorgehen, vor allem der Narzisst. Bekommt er nicht die Bewunderung, die er erwartet oder er fühlt sich nicht beachtet, wird sein Selbstwertgefühl destabilisiert – und aus Angst heraus entsteht dann eine Art Reflex. Dann kann der Narzisst plötzlich unerwartet heftig vorgehen, was häufig unbewusst geschieht – oder er verhält sich subtil manipulativ, was meist bewusst erfolgt. Es hängt aber immer von der jeweiligen Situation ab.
Elena Digiovinazzo: Wenn der Narzisst eine Opfer-Täter-Verdrehung vornimmt, er also dem Umfeld des Opfers erzählt, wie sehr er leiden würde und wie sehr ihm geschadet wurde – obwohl es umgekehrt war –, ist es dann so, dass er das gar nicht in erster Linie tut, um dem Opfer zu schaden, sondern vielmehr um seine weiße Weste zu behalten? Und denkt er gar nicht daran, was er dem anderen damit antut – etwa weil er aufgrund seiner Schwachheit immer um sich kreisen muss?
Sven Grüttefien: Ja genau, so ist es. Die Motivation des Narzissten ist es hierbei, sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Er denkt nicht darüber nach, ob er dem anderen damit schaden könnte. Er nutzt diese Methode zur Manipulation, um sich einen Vorteil zu verschaffen und sich selbst stets als makellos präsentieren zu können. Die Folgen können natürlich verheerend für Betroffene sein. Ich habe einige Personen in Beratung, die durch die geschickte Verdrehung von Tatsachen durch den Narzissten alles verloren haben: Freunde, Familie, Kinder.
Elena Digiovinazzo: Ja, das habe ich auch schon oft mitbekommen. Da sollte man sich dann einen komplett neuen Freundeskreis aufbauen. Und wenn der Narzisst sich in der Familie befindet, sollte man sich auch von dieser schützend fern halten.
Sven Grüttefien: Die meisten entscheiden sich dennoch für einen minimalen Kontakt mit der Familie und dem narzisstischen Elternteil. Auch wenn dieser oft nur zähneknirschend zu ertragen ist. Denn mit dem Aufdecken der narzisstischen Beziehungsmuster hat man sich ja nicht gerade Freunde in der Familie gemacht. Der Narzisst ist ohnehin nicht erfreut über die Vorwürfe, die ihm gemacht werden und meist stellen sich die anderen Familienmitglieder noch auf seine Seite und können gar nicht verstehen, warum ein Mitglied der Familie plötzlich den Narzissten so schonungslos anklagt. Wenn Betroffene dann mit ihrer Meinung ganz allein dastehen, sind für sie Familientreffen natürlich besonders schwer zu ertragen. Einige halten einen minimalen Kontakt dennoch aufrecht, da ein kompletter Kontaktabbruch zu schmerzhaft zu ertragen wäre, man sich auch nicht den Zugang zu anderen Familienmitgliedern versperren will, deren Gesellschaft man eigentlich wünscht und weil man vielleicht irgendwann einmal die Hilfe der Familie benötigt.
Elena Digiovinazzo: Nachvollziehbar. Aber gerade aus diesem Grund ist es mir so wichtig, Betroffenen Von Gott zu erzählen. Mit ihm ist man komplett unabhängig von Menschen. Gott kann einem einfach Menschen schicken, die sich um einen kümmern. Auch wenn man ganz allein dasteht, wenn ein Narzisst einem alles genommen hat.
Sven Grüttefien: Ich habe schon von einigen gehört, dass sie sich durch die Worte Gottes, der Bibel und durch Jesus von dem emotionalen Missbrauch befreien konnten. Ihr Glaube hat ihnen geholfen, wieder in ein glückliches Leben zurückzukehren.
Elena Digiovinazzo: Gibt es auch den Fall, dass der Narzisst etwas bewusst tut und es im Anschluss einfach vergisst und deshalb abstreitet?
Sven Grüttefien: Ja klar, das nennt man Verdrängung oder Negierung. Vielfach kann er sich wirklich nicht mehr daran erinnern, was er gesagt und getan hat. Er muss die Wirklichkeit abändern, um für sich besser dazustehen und in der jeweiligen Situation nicht in die defensive Position zu geraten. Manchmal geschieht die Verdrängung und Leugnung der Wahrheit aus seinem Schamgefühl – der Narzisst will und kann sich einfach keinen Fehler eingestehen, denn sonst würde sein Bild von einer grandiosen Persönlichkeit zerstört werden. Die Wahrheit zu sagen, wenn sie ihm schaden könnte, gleicht für den Narzissten einer Selbstkasteiung.
Elena Digiovinazzo: Zum Gaslighting: Hierbei soll es ja so sein, dass Narzissten bewusst andere Menschen verwirren, um Macht über diese zu erhalten. Machen sie das wirklich bewusst?
Sven Grüttefien: Wie gesagt, es kommt auf die Situation an. Wenn sie es zur Verteidigung machen, weil sie ihre Bedürfnisse gefährdet sehen oder ihre Ängste berührt werden, dann greifen sie instinktiv zu dieser Manipulationsmethode. Um abzuwenden, selbst destabilisiert zu werden, versuchen sie den anderen durch Gaslighting in seiner Wahrnehmung zu verunsichern, um ihn dann leichter manipulieren zu können. Das geschieht häufig unbewusst, kann aber auch bewusst erfolgen, wenn sie vorsätzlich jemandem schaden oder jemanden verunsichern wollen. Der Narzisst kann sich aber auch einen Spaß daraus machen, den anderen zu verunsichern: Er legt zum Beispiel das Portemonnaie des Opfers an einen anderen Ort und kommt dadurch, dass er den anderen suchen und damit "zappeln" lässt, in einen Erregungszustand. Er erfreut sich daran, dass das Opfer das Portemonnaie sucht und offenbar hilflos ist. Er ist dann derjenige, der die Macht hätte, das Opfer aus seiner miserablen Lage herauszuholen, weil nur er weiß, wo das Portemonnaie ist. Er genießt die Schadenfreude, was ja auch eine Form der Freude und des Genusses ist. Im Grunde ist es aber nichts weiter als Sadismus.
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Sven Grüttefien ist Heilpraktiker für Psychotherapie und Autor der Bücher und Beiträge zum Thema „Umgang mit Narzissten“.
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EhemalsBetroffene (Sonntag, 23 Oktober 2022 16:09)
Liebe Frau Digiovinazzo, lieber Herr Grüttefien,
Ihre Homepage zum Thema Narzissmus finde ich wichtig und ich habe auch Ihr empfehlenswertes Buch "Narzissmus in der Familie" gelesen. Da erkenne ich sehr gut die hochkomplizierte und nie endende schwierige und zermürbende Kommunikation, in der es einfach keine Lösung gibt. Nach meiner Erfahrung sind es zwei völlig verschiedene Sprachen, wie von verschiedenen Planeten, im Gespräch mit einem Narzissten.
Mich würde interessieren, inwieweit es eine Kombination aus einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung und einer anderen psychischen Erkrankung gibt, die Medikamente wie Neuroleptika bei Narzissten erfordert. Gibt es eine solche Kombination? Bzw. werden Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung ggf. auch mit Neuroleptika behandelt (insofern sie das zulassen)? Bei welchen Krankheiten werden Neuroleptika verschrieben?, außer bei Psychosen, bzw. Schizophrenie. Kommt Gaslighting auch bei anderen psychischen Krankheiten vor?
Ich freue mich über Ihre Antwort und wünsche Ihnen alles Gute.
Viele Grüße von einer ehemals Betroffenen
Elena Digiovinazzo (Dienstag, 25 Oktober 2022 12:28)
Liebe „EhemalsBetroffene“,
vielen Dank für Ihren Kommentar und ihre wertschätzenden Worte zu meinem Buch Narzissmus in der Familie.
Es kann Komorbiditäten geben, also dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung mit anderen psychischen Störungen gekoppelt auftritt. Folgende sind mir bekannt: Narzisstische Persönlichkeitsstörung gekoppelt mit affektiven Störungen (zum Beispiel, dass der Narzisst dazu auch depressiv ist oder bipolar) und häufig missbrauchen sie Substanzen wie Alkohol oder andere Drogen und sind dann zusätzlich Suchtkrank.
Neuroleptika setzt man ein bei Schizophrenien, Manien, organisch bedingte Störungen und bei schweren Depressionen mit psychotischen Symptomen.
Ich hoffe meine Antwort hat Ihnen weiter geholfen.
Elena Digiovinazzo
EhemalsBetroffene (Dienstag, 25 Oktober 2022 13:09)
Liebe Frau Digiovinazzo,
herzlichen Dank für die nützlichen Informationen. Damit komme ich dem Leiden meiner verstorbenen Mutter ein Stück weiter.
Liebe Grüße!